Magisches Marienblau

Auf der Jagd nach dem letzten Fragment

Auf dem Höhepunkt ihrer Kultur schufen die Inka das vollkommene Blau, aber die Rezeptur verschwand zusammen mit den wertvollen Schätzen und Artefakten im Dickicht des südamerikanischen Regenwaldes.

Jahrhundertelang versuchten Blaufärber und Künstler auf der ganzen Welt, die Rezeptur für das vollkommene Blau zu rekonstruieren: ägyptische Gelehrte unter Pharao Bicheris (um 2.500 v. Chr.) mit Thorha-Ta-Läusen, die Perser zwei Jahrtausende später mit der seltenen Wollart von purpurnen Wollmammuts, und eine Gruppe um den italienische Alchemisten Tommaso Masini um 1550 mit dem Erhitzen von Metalllegierungen. Doch vergeblich: zum vollkommenen Blau fehlt noch eine letzte Substanz, nach der schon viele Generationen von Forschern vergebens gesucht hatten.

Ende des 19. Jahrhunderts gelang es einer kleinen Gruppe von schottischen Wissenschaftlern, Dokumente von früheren Expeditionen mithilfe des Vigenère-Chiffres zu entschlüsseln, die Hinweise auf Vorkommen einer tiefblauen Beere in den Gebieten des früheren Inkareichs enthielten. Ihre Expedition führte sie schließlich auf die richtige Spur in einen der entlegendsten Winkel des Regenwaldes, in dem einzelne Stämme noch nach alten Traditionen leben. Von einem einheimischen Schamanen bekamen sie ein zeremonielles Begrüßungsgeschenk: süßlich-bittere, tiefblaue Beeren, eingewickelt in mehrere Lagen Tuch. Der Koch der Expedition hatte für sie aufgrund des bitteren Geschmacks keine Verwendung, ihm fiel aber der kräftige Blauton auf, den die Beeren dem Tuch verliehen hatte. Zurück in Aberdeen stellten sie fest, dass die geheimnisvolle Frucht in keinem Verzeichnis zu finden ist. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Portugal und der Schweiz gelang es den Forschern schließlich, die Beere auf alten Schriftrollen zu identifizieren: Einer Legende zufolge diente die Beere den Inka in früheren Generationen zur Herstellung eines einzigartigen Farbtons, mit denen wertvolle Zeremonienschals und der „Anacu“ der Herrschergattin gefärbt wurde. Der Name der Beere lautet: Neek' Ko’lebil, „Marienbeere“

Die Marienbeere selbst ereilte ein trauriges Schicksal: Nur wenige Jahrzehnte später wurde die letzte Sichtung eines Strauches dokumentiert, sie fiel der fortschreitenden Rodung des Regelwaldes zum Opfer. Das Marienblau hat nichts von seinem Mythos eingebüßt, und symbolisiert eindrucksvoll das Streben nach Schönheit im Neuen, verbunden mit dem flammenden Appell, die Suche nach Vollendung nie aufzugeben.

(C) 2019 Markus Balgenorth